9'65 Jugendanwaltschaft 1942-2010, 1942-2010 (Abteilung)

Archive plan context


Identifikation

Ref. code:9'65
Title:Jugendanwaltschaft 1942-2010
Creation date(s):1942 - 2010
Entstehungszeitraum, Streudaten:1942 - 2012
Level:Abteilung

Umfang

Running meters:72.00
Datenvolumen (MB):4500
Anzahl Dateien:18

Kontext

Verwaltungsgeschichte/Biografische Angaben:Die Jugendanwaltschaft (JUGA) wurde im Thurgau 1942 anlässlich der Einführung des neuen schweizerischen Strafgesetzbuches eingeführt. Die Jugendstrafrechtspflege mit Unterstellung der Kinder und Jugendlichen unter die Aufsicht der Jugendanwaltschaft und die Einführung der bedingten Entlassung bildeten die Eckpfeiler der gesetzlichen Neuordnung. Die JUGA wurde dem parastaatlichen Thurgauischen Schutzaufsichtsverein als Geschäftsstelle angegliedert und übernahm von ihm die Schutzaufsicht über Kinder und Jugendliche, handelte aber nach eigenem Pflichtenheft (Hundert Jahre thurgauischer Schutzaufsichtsverein, Lk 5027, S. 14 und S. 69). In der kantonalen Verwaltungsstruktur figurierte die JUGA anfänglich unter den kantonalen Gerichtsstellen, bis sie anlässlich der Verwaltungsreform von 1977 dem Departement für Justiz, Polizei und Fürsorge zugeteilt wurde. Von 1991 bis 2010 war sie dem Departement für Justiz und Sicherheit DJS unterstellt.
Um die Stellvertretung des Jugendanwalts sicherzustellen (Haftverfügungen mussten innerhalb von 24 Stunden ausgestellt werden können), wurden 1942 ein Stellvertreter des Jugendanwalts bestellt (Regierungsratsbeschluss Nr. 1563 vom 13.07.1942) und 1963 die Vize-Jugendanwaltschaft mit einem nebenamtlichen Jugendanwalt eingeführt (Amtsblatt des Kantons Thurgau, Mg 3/116, S. 249 und 251). Der Jugendanwalt und der Vize-Jugendanwalt teilten die Zuständigkeit für die Bezirke unter sich auf: der Jugendanwalt betreute sechs Bezirke, der Vize-Jugendanwalt die restlichen zwei sowie die zentrale Administration (vgl. hierzu Regierungsratsbeschluss Nr. 385 vom 25.02.1975). Beide Stellen führten aber die gleichen Akten. Mit der Pensionierung des Stelleninhabers (Plattner Peter) wurde die Vize-Jugendanwaltschaft per 31. Juli 1997 aufgehoben und die Stellvertretung bei Haftfällen seit 1. August 1997 den Bezirksstatthaltern übertragen (Regierungsratsbeschluss Nr. 539 vom 17.06.1997). Im selben Jahr 1997 erfuhren auch die Kompetenzen der JUGA insofern eine Ausweitung, als nun nicht mehr in gewissen Fällen das Gericht, sondern neu die JUGA sämtliche strafbaren Handlungen von Kindern und Jugendlichen in erster Instanz durch Strafverfügungen beurteilte (Teilrevision der Strafprozessordnung vom 30.06.1970/5, § 13; Rechenschaftsbericht des Regierungsrates, Mk 1/160, S. 161).
Seit 1942 wurden der Jugendanwalt und sein Stellvertreter vom Regierungsrat für eine Amtsdauer von 3 Jahren gewählt und unterstanden dessen Aufsicht. Ab den 1970er Jahren wählte dann der Grosse Rat einen oder mehrere Jugendanwälte, der Regierungsrat ihre Stellvertreter und die erforderlichen Hilfskräfte. Die allgemeine Verwaltungsaufsicht über die Jugendanwaltschaft übte weiterhin der Regierungsrat aus. Per 01.01.2011 erhielt der Kanton Thurgau eine umfassende neue Organisationsstruktur. Auslöser dafür war die Justizreform des Bundes (im Jahr 2000 angenommen von Volk und Ständen). Die Reform bedeutete grundlegende Änderungen im Strafverfolgungs- und Gerichtsbereich, in deren Folge die Jugendanwaltschaft der Generalstaatsanwaltschaft unterstellt wurde. Davon wurde das Ende des Bestandszeitraums (2010) abgeleitet.
Sowohl die Jugendanwaltschaft als auch die Vize-Jugendanwaltschaft hatten ihren Sitz stets in Frauenfeld. Ab Mitte der 1960er Jahre verfügte die Jugendanwaltschaft über eine Fürsorgerin, ab den 1980er Jahren über ein Team von mehreren Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern. Zeitweise (ca. 1990–2010) wurde einer dieser Sozialarbeiter in einer Zweigstelle in Romanshorn eingesetzt.
Aufgaben
- Strafuntersuchungen in allen Strafsachen von Kindern (bis zum zurückgelegten 14. Altersjahr) und Jugendlichen (bis zum zurückgelegten 18. Altersjahr). Bis 1997 mit Ausnahme von Übertretungen des Strassenverkehrsgesetzes, die auf der Ebene der Bezirksämter geahndet wurden.
- Beurteilung aller strafbaren Handlungen von Kindern und Jugendlichen
- Vollzug der Entscheide
- Schutzaufsicht
(Thurgauische Verfassungskunde, Lk 5041, S. 50)

Der Jugendanwalt fungierte zugleich als Verhörrichter und Staatsanwalt. Zudem beurteilte er als Richter strafbare Handlungen und Übertretungen (unter Vorbehalt der Einsprache bei den ordentlichen Gerichten) und war Vollzugsbehörde.

Arbeitsweise der Jugendanwaltschaft
Die JUGA wurde in einen Fall eingeschaltet, indem der Bezirksstatthalter bzw. das Bezirksamt diesen nach Vornahme der ersten Ermittlungsschritte (Entgegennahme der Anzeige, Tatbestandsaufnahme durch die Polizei etc.) an sie abtrat. Aufgrund der vorliegenden Dokumentationen führte die JUGA eigene Einvernahmen durch und setzte gegebenenfalls den eigenen Sozialdienst oder medizinische Fachkräfte ein, um das persönliche Umfeld der Betroffenen abzuklären. Je nach Beurteilung des Falls resultierte daraus die Einstellung des Verfahrens (z. B. beim Rückzug des Strafantrags bei Antragsdelikten), eine Strafe (Verweis, Arbeitsleistung, Busse oder Einschliessung) oder eine Erziehungsmassnahme (Erziehungshilfe, Fremdfamilienplatzierung, Heimeinweisung oder (ambulante) Behandlung). Der Massnahmevollzug wurde von der JUGA angeordnet, überwacht und betreut.
Das Jugendstrafrecht ist ein Sonderstrafrecht: Es umfasst nur eine bestimmte Altersgruppe und sieht für die Delinquenten besondere Sanktionen und Verfahren vor. Es bestehen aber keine eigenen Tatbestände – es gibt keine Straftatbestände, die nur von Kindern und Jugendlichen begangen werden können. Während das Erwachsenenstrafrecht dem Tatprinzip verpflichtet ist (die Sanktion soll der Schwere der Tatschuld entsprechen), wird bei Jugendstrafen viel stärker auf die delinquente Person fokussiert: Nicht die Tat steht im Vordergrund, sondern die Person (präventives Täterstrafrecht). Die leitenden Prinzipien sind dabei Schutz und Erziehung – nicht eigentlich die Bestrafung.

Strafmündigkeit
Seit der Einführung des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB; SR 311.0) im Jahr 1942 galt für die Anwendung des Jugendstrafrechts die obere Altersgrenze von 18 Jahren. Die untere Altersgrenze wurde hingegen sukzessive erhöht: Von 1942–1970 lag die Strafmündigkeit bei 6 Jahren, von 1971–2006 bei 7 Jahren und seit 2007 bei 10 Jahren. Es gilt das Alter zum Tatzeitpunkt.
Das Strafmündigkeitsalter entsprach hierbei nicht immer dem allgemein geltenden Mündigkeitsalter: Im Bundesgesetz vom 22.06.1881 über die persönliche Handlungsfähigkeit (ZGB; in Kraft gesetzt auf den 01.01.1882) wurde das Mündigkeitsalter schweizweit auf 20 Jahre festgelegt. Zum einen war dies ein Kompromiss aus verschiedenen kantonalen Mündigkeitsaltern zwischen 19 und 26 Jahren. Zum andern wurde damit eine Übereinstimmung mit dem Stimm- und Wahlrechtsalter sowie mit dem Beginn der militärischen Dienstpflicht erreicht. Ab 1996 trat die Mündigkeit mit dem vollendeten 18. Lebensjahr ein (Art. 14 ZGB).

Jugendanwälte/Leitende Jugendanwältin
1942–1973 Schatzmann Alfred, Dr. iur.
1973–2009 Scherrer Leo, Dr. iur.
2009–2021 Reifler Barbara, lic. iur.

Stellvertreter/Vize-Jugendanwälte
1942–1945 Buck Hans, Dr. iur.
1945–1958 Kuhne Fritz, Dr. iur.
1957–1966 Hagenbüchle Anton, Dr. iur.
1966–1997 Plattner Peter, Dr. iur.

Rechtsgrundlagen
Das Jugendstrafgesetz war ursprünglich im Rahmen des Strafgesetzbuches (StGB) geregelt – 2003 trat es als eigenständiges Gesetz (JStG vom 20.06.2003) in Kraft. Per 20.03.2009 wurde zudem eine eigene Jugendstrafprozessordnung (JStPO) in Kraft gesetzt, die die ursprünglichen kantonalen Regelungen ablöste.
Bestandsgeschichte:Der Bestand 9'65 Jugendanwaltschaft kam in mehreren Ablieferungen zwischen 1997 und 2023 ins Staatsarchiv und umfasste vor der Bearbeitung rund 61 Laufmeter. Bei den abgelieferten Akten handelte es sich weitestgehend um Fallakten; von der Amtsleitung war nur wenig Material (knapp zwei Archivschachteln) vorhanden. Ein Teil der Fallakten (Zeitraum 1942–ca. 1968) wurde im Staatsarchiv Thurgau im Jahr 2004 schon einmal geordnet. Dieser Teilbestand wurde damals in drei Teile gegliedert: Fälle (alphabetisch geordnet), niedergeschlagene und eingestellte Fälle (chronologisch nach Datum der Verfügung) sowie allgemeine Akten (chronologisch).

Zu den Fallakten des gesamten Bestands 9'65 sind verschiedene Fallkarteien (1942–1999) sowie einige Listen (1991–1994) vorhanden.
Vor der Erschliessung des Bestands gab es erhebliche Schwierigkeiten in der Handhabung der Fallakten, da der Bestand etliche, unterschiedlich geordnete Einzelablagen aufwies. So war ein Teil der Fallakten über einen grösseren Zeitraum hinweg alphabetisch geordnet, andere Teile hingegen pro Jahr alphabetisch, wobei sich die Jahresangabe auf den Abschluss der verfügten Massnahmen bezog, und wieder andere waren chronologisch nach Abschluss der verfügten Massnahmen geordnet. Eine verfügte Massnahme wie beispielsweise die Einweisung in ein Erziehungsheim oder eine Fremdfamilienplatzierung wurde nicht selten erst mehrere Jahre nach der Verfügung beendet. Während ein Ablagesystem nach Abschlussdatum der verfügten Massnahmen aus Sicht des Amts durchaus praktisch sein mochte, war es für die Benutzung im Archiv wenig geeignet. Woher sollten Benutzerinnen und Benutzer wissen, in welchem Jahr eine Massnahme beendet wurde?

Anstelle einer umfassenden Neuordnung zur Vereinheitlichung der unterschiedlichen Amtsablagen wurden die Fallakten möglichst detailliert mit Personennamen, Delikt, Geschäftsfallummer und Datum der Strafverfügung erschlossen. Dadurch sollten komplizierte Suchvorgänge und Umwege über die Fallkarteien obsolet und der Zugriff auf die Fallakten erheblich erleichtert werden. Die Fallakten wurden dabei in zwei Zeitabschnitte eingeteilt: 1942–1995 und 1996–2010. Diese Zweiteilung ergab sich daraus, dass in den Aktenreihen bis und mit 1995 alle Arten von Strafen und Massnahmen (Arbeitsleistungen, Verweise, Einstellungen, Absehen von Strafen und Massnahmen, Einschliessungsstrafen, Heimplatzierungen, Familienplatzierungen, besondere Massnahmen und Erziehungshilfen) vorhanden waren. Nach 1995 wurden nur noch, mit Ausnahme des Jahrgangs 2005, diejenigen Fälle ins Staatsarchiv übernommen, die Massnahmen (Einschliessungsstrafen, Heimplatzierungen, Familienplatzierungen, besondere Massnahmen und Erziehungshilfen) nach sich zogen. Die vollständige Überlieferung aller Fälle aus dem Jahr 2005 beruhte auf der Auswahlregelung, dass nur noch alle 10 Jahre ein gesamter Jahrgang, beginnend im Jahr 1995, übernommen wurde.
Entgegen der Annahme, dass die Fallakten bis und mit 1995 vollständig ins Staatsarchiv abgeliefert worden waren, musste während der Erschliessung festgestellt werden, dass einige Fallakten fehlten. Aus diesem Grund wurden im Fonds 9'65, 1.2 die Übersichtslisten der Vize-Jugendanwaltschaft 1991–1994 aufbewahrt; mit Hilfe dieser Listen lässt sich die Unvollständigkeit der Aktenablieferung ans Staatsarchiv nachvollziehen. Selbige gilt auch für die Fallakten aus dem Zeitraum 1996–2010; trotz Auswahlregelung gibt es Hinweise darauf, dass Akten fehlen, die eigentlich ins Staatsarchiv hätten abgeliefert werden müssen. Zumindest teilweise kann das Fehlen der Akten damit erklärt werden, dass sie an andere Ämter ausgeliehen und anschliessend nicht retourniert worden waren.

Der Bestand wurde von Januar 2023 bis Oktober 2023 von Nora Parolari (unter Mithilfe von Annie Forster) geordnet und erschlossen. Die Bearbeitungszeit betrug ca. 1900 Stunden.
Der Bestand umfasste mehrere digitale Videoaufnahmen. Diese Aufnahmen wurden von Joel Walder 2024 digital archiviert. Der Zeitaufwand betrug 14 Stunden.

Inhalt und innere Ordnung

Bewertung und Kassation:Ab 1996 wurden, mit Ausnahme des Jahrgangs 2005, nur noch die Fallakten derjenigen Fälle aufbewahrt, die Massnahmen nach sich zogen (siehe Bestandsgeschichte). Die restlichen Fallakten wurden durch die Jugendanwaltschaft kassiert. Im digitalen Bestandsdossier befindet sich eine kommentierte Liste der kassierten Fallakten für den Zeitraun 1995–2010.
Durch das Staatsarchiv wurden Akten betreffend die Massnahmevollzugskosten für die Jahre 1970 (ca.)–1980 und 1999–2010 im Umfang von 3.25 Lfm kassiert, ebenso diverse Listen zu Fallakten aus dem Zeitraum 1973–2010, da sie gegenüber den nunmehr präzise erschlossenen Fallakten im Bestand 9'65 keinen Mehrwert mehr besassen. Im Zwischenarchivbestand des Bezirksamts Diessenhofen befanden sich im Jahr 2023 noch einige Fallakten der Jahre 1999 und 2000, die das Bezirksamt an die Jugendanwaltschaft abgetreten hatte. Diese wurden in den Bestand 9'65 umplatziert. Grossmehrheitlich handelte es sich bei den kassierten Unterlagen aber um Dubletten oder um Kopien von Fallakten, deren Orginale gemäss Auswahlregelung mit dem Staatsarchiv bereits von der Jugendanwaltschaft kassiert worden waren.

Zugangs- und Benutzungsbedingungen:

Rechtsstatus:Eigentum des Staatsarchivs des Kantons Thurgau.
Zitiervorschlag:Fussnote: StATG 9'65, */*.
Quellenverzeichnis: StATG 9'65 Jugendanwaltschaft 1942–2010.
Sprachen:Deutsch.

Sachverwandte Unterlagen:

Verwandte Verzeichnungseinheiten:StATG 9'35, 1.11/135 Schatzmann Alfred, Frauenfeld: Jugendanwalt

StATG 5'0 Bezirksämter 1798-2010
Veröffentlichungen:Schildknecht, Berta: Das Jugendstrafrecht des Kantons Thurgau, Affoltern am Albis 1939.

Lüdi, Verena: Die Schutzaufsicht im Jugendstrafrecht der Schweiz, Zürich 1951.

Lang, Fritz: Die Untersuchungshaft im Jugendstrafverfahren unter besonderer Berücksichtigung der Ostschweizer Kantone Zürich, Glarus, Schaffhausen, Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden, St. Gallen, Graubünden und Thurgau, Zürich 1979.

Böckli, Otto: Thurgauische und Eidgenössische Verfassungskunde, Kreuzlingen 1942. [StATG Präsenzbibliothek Lk 5041]

Hundert Jahre, 1857-1957, Thurgauischer Schutzaufsichtsverein. Jahresbericht 1956, Frauenfeld 1957. [StATG Präsenzbibliothek Lk 5027]
 

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End of term of protection:12/31/2030
Permission required:Keine
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Accessibility:Oeffentlich
 

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